Was schön war
Es beginnt zu donnern, noch bevor Theo eingeschlafen ist. Hanni schläft schon in meinem Arm, Theo hat sein Köpfchen an C. gelehnt. Das Gartentor wird vom Wind auf- und zugeschlagen. Wir harren aus, Theo schaut gross, zuckt beim Donnern zusammen, schläft dann aber doch ein.
Am nächsten Morgen muss Theo sofort auf die Wiese hinter dem Haus, die Äste inspizieren, die der Sturm vom Baum geholt hat. Ich versuche, ihn im Auge zu behalten und nebenher den Karton zu Bündeln und das Frühstück fertig zu machen. Dann verschwindet er hinter der Hausecke, ich laufe hinterher, die Kaffeetasse noch in der Hand.
„Pause machen!“ befiehlt Theo. Ein paar Minuten sitzen wir auf den Stufen des Hauseingangs, ich trinke meinen Kaffee und Theo grüsst Passanten.
Zehen
Das plitsch platsch ihrer kleinen Füsse auf dem Holzboden.
Wie sie zusammengedrängt im Veloanhänger sitzen und Bücher anschauen. So viel Liebreiz auf so engem Raum.
Theos rotgoldenen Locken. Überhaupt diese zwei wuscheligen Köpfchen, die irgendwie immer nach Heu und Joghurt riechen.
Hannis glockenhelle Stimme. Oder wie die beiden im Nebenraum Unsinn machen, und man weiss, man sollte nachschauen gehen, aber sie kichern so ausgelassen, und es so ein schönes Geräusch.
Wie sie so nebeneinander stehen, Händchen haltend, Hannis zierlichen Beinchen neben Theos kräftigen Waden.
Manchmal könnte ich weinen beim Anblick ihrer kleinen knubbeligen Kinderzehen.
Zeit
„Deine Zeit ist wertvoller als meine“, sagt A., als wir debattieren, nach dem Mittagessen noch einen Kaffee zu trinken. Es ist ein seltsamer Nebeneffekt meiner Stelle, dass Leute das denken. „Du bist mein einziges Laster“, sage ich.
Das stimmt sogar. Ausser den Mittagessen mit A. mache ich seit Jahren so gut wie nichts, dass nicht entweder Arbeit oder Familie ist.
Ich würde gern mehr arbeiten, aber ich würde auch gern mehr Zeit mit den Kindern verbringen. An guten Tagen ist das ein Glück. Dass ich nicht genug bekomme, von der Arbeit oder den Kindern. An schlechten Tagen ist es ein Problem: Nie reicht die Zeit, nie reiche ich.
2022
1. Im Januar höre ich das Gerücht, dass ich die Stelle in Basel bekommen soll. Ich war mir nach dem Vorsingen recht sicher, dass sie mich im besten Fall für einen der hinteren Listenplätze vorgesehen hatten, aber jetzt: Hoffen und bangen.
2. Der Winter ist hart. Theo ist ständig krank und schläft nicht. Wir schieben ihn stundenlang durch das nächtliche Neuenheim, sind nur noch erschöpft und müde. Theo gedeiht trotzdem prächtig. Er ist ein kräftiger und fröhlicher kleiner Bub. Im Februar wird er eins und beginnt zu laufen.
3. Im März erhalte ich eine E-Mail vom Rektorat in Basel und es ist tatsächlich ein Ruf. Ich habe Theo auf dem Arm und wollte eigentlich gerade die Kinderärztin anrufen. Ich bleibe kurz stehen und denke: Das ist jetzt der Moment. Aber Johanna sagt: Mama, du wolltest die Ärztin anrufen, und ich rufe die Ärztin an und gehe auch gleich mit den Kindern vorbei, um ein Rezept abzuholen. Das war der Moment.
4. Im April beginnt das Semester. Ich habe eine Vorlesung, ein Seminar und mehrere Vorträge. Ich bereite die Gespräche mit Basel und den Umzug vor, suche eine Kita und eine Wohnung. Die Umzugsadministration ist nichtendenwollend. Ich bin Woche für Woche erstaunt, dass ich irgendwie durchkomme.
5. Im Mai fahre ich zum Verhandeln nach Basel. Während dem Gespräch ruft mich die Immobilienfirma an, wir können die Wohnung haben, sagt der Anrufbeantworter. Wir haben gerade mehr Glück, als wir fassen können, aber unser Alltag ist noch immer eine Belastungsprobe. Johannas Trotzphase setzt uns zu. „Es wird besser werden“, sage ich zu C. „Das sagst Du seit Jahren“, sagt C. „Ich glaube es, wenn ich es sehe.“
6. Es wird trotz allem ein schöner Sommer. Heidelberg zeigt sich nochmals von seiner prächtigsten Seite. Jeden Tag fahre ich mit dem Rad den Neckar entlang, erst zur Kita, dann zur Arbeit, und die alte Brücke leuchtet in der kühlen Morgensonne.
7. Im Juli mache einen überstürzten und verregneten Abschiedsumtrunk am Seminar, der trotzdem gut ist. Ein richtiger Abschied ist dann aber Johannas Geburtstagsfest, zwei Tage vor dem Umzug. Alle Kindergartenfreunde, Kinder und Eltern, kommen zum Kastellwegspielplatz, einer meiner Liebelingsorte in Heidelberg. Trotz der knappen Zeit gelingt die Organisation, es ist warm, die Kinder sind ausgelassen. Am Ende sind nur noch Hannis beste Freundinnen da, und unsere Heidelberger Freunde. Alle Kinder sind nackt und mit nassem Sand überzogen.
8. Im August lösen wir die Wohnung in Heidelberg auf und machen wieder Urlaub in Österreich, erst bei der Familie, dann mit Freunden. Ich gehe mit Johanna auf den Schultern durch den Waldviertler Wald. Ich kenne keinen schöneren Wald: hell, mit einem weichen Moosboden und vielen Heidelbeeren. Johanna beginnt zu singen: Chum Chindli, chum weidli, chum mit mir in Wald. Mir pflücked det Beeri, sie riifed scho bald.
9. Im September beginnen wir mit der Eingewöhnung in Basel, noch bevor die Möbel aus der zweiten Wohnung übersiedelt sind. Wir schlafen auf dem Boden und leben aus Kisten. Die Arbeitsbelastung ist hoch, aber die ersten Wochen und Monate sind getragen von grosser Euphorie. Jeden Tag fahre ich mit dem Rad durch die Stadt, erschliesse mir neue Wege und kann nicht fassen, dass ich hier sein darf.
10. Im Oktober findet eine kleine Tagung in Heidelberg statt. Ich bin Organisatorin, aber jetzt selbst nur noch Gast in der Stadt. Ich war so dreist, fast ausschliesslich akademische Freund:innen einzuladen, was die Tage schön und produktiv macht. Vor der Heimreise sitzen wir noch zusammen auf dem Karlsplatz in der Sonne. Es ist so schön hier, aber ich bin nicht wehmütig.
11. Im November wird es nicht nur besser, es wird richtig gut. Ich sehe A. und D. wieder regelmässig. Wir fahren an den Wochenenden in die Dorfwohnung, aber der Weg ist jetzt eine Stunde, nicht vier. Ich habe wieder Boden unter den Füssen, beim Arbeiten und überhaupt, gefühlt zum ersten Mal seit Jahren.
12. Im Dezember gibt es ein paar Tage mit richtigem Schnee. Wir setzen die Kinder auf einen Schlitten und machen einen Spaziergang bei Sonnenaufgang, mit leuchtend blauem Himmel. Kurz bevor wir wieder zu Hause sind, wird den Kindern kalt und sie weinen nurmehr. Es ist irgendwie passend für dieses Jahr. Idylle und Katastrophe liegen nah bei einander.

nichtsnuss